18. August 2020

Auf ein Bier mit Horst
Mache das Allerbeste aus jedem Monster

Das ‚Monster von Bergisch-Gladbach‘ titelt die Boulevardzeitung heute, nachdem gestern bei dem Prozessauftakt vor dem Kölner Landgericht die über einstündige Anklageschrift verlesen worden ist.
Dieter sitzt mir im Schlafanzug am Küchentisch gegenüber. Gestern kam er vorbei, um mit mir die Nachrichten online zu verfolgen. Mittags gab es die ersten erschütternden Meldungen aus dem Gerichtssaal. Wir lasen mit Entsetzen, dass der Angeklagte vor allem seine erst einige Monate alte Tochter schwer missbraucht hat. Bis zu dem Zeitpunkt seiner Entdeckung immer wieder, da war das Kind zwei Jahre alt. Gefilmt hat er die meisten Taten, um sie an Gleichgesinnte zu verschicken. Außerdem hat er sich mit einem Chat-Partner zum gemeinsamen Missbrauch der eigenen Kinder in einer Hotelsuite mit Whirlpool und Sauna getroffen.

In meinem Haus hielten wir es nicht aus. Wir haben Horst angeleint und sind zu einem langen Spaziergang aufgebrochen. Der Weg führte uns durch viele Wohnstraßen über Parkanlagen an den Rhein. Wir stolperten am Ufer entlang. Dieter warf Stöckchen, die als Treibgut angeschwemmt wurden.

Obwohl wir mit der Institution der katholischen Kirche auf Kriegsfuß stehen, lenkten wir unsere Schritte in das Gotteshaus. Wir stellten 79 Kerzen auf, für jede Tat eine. Ich weiß nicht, ob wir sie damit ungeschehen machen wollten, aber es hat uns geholfen, damit klarzukommen. Ich habe mich in die Bank gekniet und ein ernstes Zwiegespräch mit der Mutter Gottes geführt. Ich habe eindringlich darauf hingewiesen, dass wir die vielen Lichter nicht zu ihren Ehren aufgestellt haben. In meinen Augen macht sie nämlich keinen guten Job als Schutzpatronin der gesamten Christenheit. Nicht nur in dem Fall Bergisch-Gladbach, die Liste ist lang… Vielleicht ist sie einfach überfordert, wie wir alle.

Wo eine Kiche, da ist auch das Wirtshaus nicht weit. Zum Glück war das Wetter gut, wir setzten uns in den Biergarten. Horst bekam eine Wasserschüssel, wir bestellten Bier.  Wir blieben bis zur Sperrstunde, wollten nicht zurück zur online Berichterstattung. Der Alkohol half bis zu einem bestimmten Punkt, wir hatten auch richtig lustige Momente. Als wir dann gehen mussten, hakte ich mich auf dem Nachhauseweg bei Dieter unter. Ich nahm das erste Mal den sehr schwachen Geruch seines After Shaves war, oder vielleicht waren es doch nur die Ausdünstungen des erheblichen Alkohlkonsums. Mir gefiel es auf jeden Fall und ich schmiegte mich sanft an seine Seite.

Vor meiner Haustür angekommen, wollte ich ihn nicht gehen lassen.
„Wenn ich Ihnen verspreche, dass ich den Laptop nicht mehr anmache, kommen Sie dann noch auf einen Absacker mit rein?“
Dieter runzelte die Stirn und guckte zu Horst: „Man darf einer Dame nichts abschlagen, das habe ich dir auch beigebracht. Deswegen…“ und er wandte sich wieder an mich „Gerne. Ein Wasser für Horst und für mich einen von Ihren hervorragenden Schnäpsen, wenn es recht ist.“  Ich zog die beiden an der Jacke und an der Hundeleine ins Haus.
Gemeinsam trinken ist doch wirklich so viel besser. Vor allen Dingen, wenn man nicht mehr gehen muss, wenn man nicht mehr gehen kann. Ich bot Dieter mein bequemes Gästebett an, gab ihm einen von meinen Schlafanzügen und überlies die beiden der verdienten Ruhe. Dank des kontinuierlichen Trinkens fiel ich schnell in den Schlaf, der allerdings, ebenfalls dank des kontinuierlichen Trinkens, unruhig war und mich des öfteren wachmachte. Die Kopfschmerzen, die sich allmählich einstellten, nahm ich als Buße. Für die Menschheit und ihre Sünden im Allgemeinen und für meine Sauferei am vorherigen Abend im Besonderen.
Früh traf ich Dieter in der Küche. „Suchen Sie etwas? Schmerztabletten? Soll ich Tee oder Kaffee machen?“ In meinem Schlafanzug aus dunkelblauem Satin sah Dieter zwar blass, aber durchaus angezogen aus. „Tee wäre wunderbar. Ich bin kurz mit Horst vor der Tür.“ Ich entschied mich für eine ayurvedische basische Kräuterteemischung, deren Tags an den Beuteln den Tag bereitete: Nichts ist so überzeugend wie ein Lächeln und Suche nach dem Allerbesten in jeder Situation.

Dieter bringt von seiner kleinen Hunderunde, die er wirklich problemlos in meinem Schlafanzug absolvieren konnte, die Zeitung aus dem Kasten mit.

Da ist es wieder, das ‚Monster von Bergisch-Gladbach‘. Dieter sitzt mir im Schlafanzug am Küchentisch gegenüber. Wir trinken Tee. Wir lächeln uns an.