Tageblog 9. August 2016

9. August 1960  Das Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ erscheint im Thienemann-Verlag, Stuttgart.

 

Fundsache

Jochen K. nimmt die Thermoskanne und packt sie zusammen mit der Zeitung in seine Tasche. Er nimmt die Jacke vom Haken und zieht sie an. Die letzte Fahrt für heute denkt er und macht noch einmal einen letzten Gang durch die leere Straßenbahn. Neben den üblichen Papierchen, Pappbechern und Bierflaschen gibt es nichts. Auf dem Weg zurück zur Fahrerkabine fällt sein Blick auf ein Blatt Papier, das auf dem Fensterplatz direkt hinter seinem Sitzplatz liegt. Das Blatt ist glatt und sauber und sieht nicht so aus, als ob es jemand wegwerfen wollte. Jochen K. nimmt das Blatt und liest:

Endlich ist der alte Bahnfahrer wieder da. Er fährt viel geschmeidiger
Die Bahn ruckelt auch nicht so.

 Erstaunt hält er inne. Er nimmt das Blatt mit zurück in seine Kabine. Sorgfältig schließt er die Tür und setzt sich auf seinen Fahrersitz. Dann beginnt er zu lesen:

Außerdem macht er auch noch mal die Tür auf, wenn ich angelaufen komm
Der andere grinst immer nur schadenfroh, wenn er an mir vorbeifährt.

 Sollte da vielleicht von ihm die Rede sein? Er hatte ja zwei Wochen Urlaub gehabt und war erst seit 3 Tagen wieder dabei. Er machte nicht so gerne Urlaub, es war ihm langweilig. Er liebte seinen Job. Außerdem wartete er tatsächlich schonmal auf Nachzügler. Den Spaß, den so mancher Kollege empfand, wenn er jemandem vor der Nase wegfahren konnte, konnte er nicht teilen. Vielmehr machte es ihn traurig, wenn er darüber nachsann, welche Verabredungen jetzt zu spät erreicht wurden, welche Anschlüsse verpasst wurden und wieviel Ärger das bei den Beteiligten auslösen konnte.Neugierig beugte er sich erneut über das Blatt und las weiter:

Neulich war es besonders krass. Ich war mal wieder zu spät losgekommen,
weil Nele mich nicht gehen lassen wollte und die Erzieherin noch eine Minute Verabschiedungszeremoniell vorgeschlagen hatte. Hab ich natürlich mitgemacht, bin dann zur Haltestelle gerast, aber der grinsende Fettsack hatte schon die Türen zu und, als hätte mein Erscheinen eine Entscheidung ausgelöst, fuhr die Bahn  langsam an und Grinsegesicht nickte mir zu. Ekelhaft der Typ! Und wenn der dann an der Haltestelle „Burgstraße“ aussteigt, weil hier seine Schicht zu Ende geht! Dann sieht man den ganzen Scheißtyp in voller Länge. Ein bißchen schwabbelig überall, die Hose leider zu eng, dass das Fett auch noch rausquillt. Die Jacke verdeckt das natürlich nicht, die kriegt er gar nicht mehr zu. Ach wie toll sieht dagegen mein Lieblingsbahnfahrer aus. Die Uniform kleidet ihn einfach ungemein und außerdem hat er auch immer einen akkuraten Haarschnitt und ist rasiert. Wahrscheinlich benutzt er sogar wohlriechendes Eau de Toilette. Da ich oft direkt hinter ihm sitze und in die Fahrerkabine hineinlugen kann, habe ich auch schon die gepflegten Hände bewundert. Will ich ihn vielleicht kennenlernen? Aber wie soll ich das anstellen?

 Jochen K. blickt irritiert hoch und dann auf seine Hände. Er gab sich natürlich Mühe mit seinem Äußeren. Aber war er tatsächlich so attraktiv? Sein Eau de Toilette hatte er schon lange nicht mehr benutzt. Es war ein Geschenk von Karin gewesen und seit sie fortgegangen war, hatte er es nicht über sich gebracht, es aufzulegen. Aber morgen würde er es noch einmal versuchen, die Erinnerungen waren nicht mehr schmerzhaft. Auf dem Blatt standen noch ein paar Sätze:

 

Vielleicht sollte ich mal an die Kabinentür klopfen und um ein Date bitten. Vielleicht sollte ich vor die Bahn laufen, natürlich ungefährlich, und dann müsste er sich über mich beugen und sich nach meinem Befinden erkundigen. Und wenn ich dann doch in’ s Krankenhaus käme, würde er mich besuchen.  Vielleicht lasse ich auch einfach das Blatt in der Bahn liegen und er findet es, liest es und wenn die Bahn morgens um 7:48 Uhr an der Haltestelle „Koroner Weg“ einfährt, und ich vollkommen außer Atem um die Ecke biege, dann höre ich über den Außenlautsprecher der Bahn den Soundtrack von dem Kinofilm „Der Liebe Verfallen“ mit Meryll Streep und Robert de Niro in den Hauptrollen. Die Musik von Dave Grosin ist einfach zum dahinschmelzen.

           Und ich bin total bescheuert!!!!!!,!!!!!!,!!!!!!,!!!!!!

 Jochen K. war vollkommen fertig. Das war eine Falle. Und er war hineingetappt.Was tun? Den Zettel wegwerfen und sich nicht mehr damit beschäftigen? Jemandem davon erzählen? Die Musik von Dave Grosin suchen? Ja das war ein Anfang! Er faltet das Blatt und steckt es in seine Jackentasche. Er schnappt sich seine Tasche, springt aus der Bahn, verschliesst die Tür und verlässt das Depot.
Zuhause angekommen lässt er die Tasche fallen und schaltet sofort seinen Computer an. Er knipst die kleine Lampe am Bett an, geht ins Bad und sucht das Eau de Toilette. Er schnuppert an der Flasche. Es gefällt ihm immer noch. Er wäscht sich die Hände. Dann nimmt er einen ordentlichen Schwall und reibt sich das Gesicht und den Nacken ein. Ein angenehmer Duft von Bergamotte und Patchouli breitet sich aus. Er streicht sanft über sein Gesicht und betrachtet sich im Spiegel, in dem er nur ganz schwach seine Konturen wahrnimmt, da das Licht vom Bett das Badezimmer nicht erhellt. Er nimmt sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und gibt sein Passwort in den Computern ein: KaRiN778. Er googelt Dave Grosin. Sofort auf der ersten Seite der Hinweis auf den Film Der Liebe verfallen mit Meryll Streep und Robert de Niro. Jochen K. klickt den youtube Beitrag an und lauscht.—         Dabei betrachtet er die laufenden Bilder. Er würde sich den Film ausleihen. Nein er würde ihn jetzt von einer verbotenen Plattform downloaden und sofort anschauen. Er sucht eine Weile herum und findet den Film tatsächlich. Da er den Film vom Bett aus betrachten möchte, dreht er den Bildschirm so, dass er gut sehen kann. Er holt sich noch ein Bier, zieht sich aus und legt sich unter die Bettdecke. Er fummelt das Blatt aus seiner Jackentasche und legt es neben sich. Darauf seine Hände, die er eingehend betrachtet. Nie war ihm etwas besonderes an ihnen aufgefallen. Jemand hatte sie als gepflegt bezeichnet. Sein Blick wandert von den Nägeln auf das Papier. …total bescheuert!!! Steht da. Ja, so kam er sich auch vor. Die Augen heften sich auf den Bildschirm. Die ersten Takte der Musik sind zu hören, während die Kamera von oben über einen Fluss schwenkt, an dessen vorderem Ufer eine Bahnlinie entlangführt. Der Schwenk endet auf einer Bahnstation. Schnitt. Man sieht eine junge Frau auf den Bahnsteig kommen. Der Wind zerrt an ihrer Frisur und an der Kleidung. Sie zieht den Mantel fest um ihren Körper. Schnitt. Der fahrende Zug. Schnitt. Man sieht sie durch die Fensterscheibe im Zug sitzen. Schnitt. Blick auf ein ankommendes Taxi an einem anderen Bahnhof. Ein Mann steigt aus, mit Papierrollen unter dem Arm. Er läuft auf den Bahnsteig und springt in den wartenden Zug. Die Tür schließt sich. Schnitt. Der fahrende Zug. Schnitt. Wir sehen wie der Mann sich setzt, eine Reihe hinter ihr. Der Film hat angefangen und zieht Jochen K. in seinen Bann. Ende. Mit Happy End. Sah bis zum Schluß nicht so aus als ob das klappen könnte. Ein schöner Liebesfilm. Jochen K. schlägt die Bettdecke zurück und steht auf. Er holt sich noch ein Bier, sucht auf youtube nochmals die Musik zu dem Film und lauscht. Auch ohne die dazugehörigen Bilder spürt er wie die Geschichte ihn gefangen nimmt. Ja, sich noch einmal so verlieben. Das wäre wirklich wunderbar. Sein Blick fällt auf das Blatt Papier. Das Drehbuch für so eine kitschige Liebesgeschichte hatte er ja schon vorliegen. Zumindest die Schlusseinstellung war schon geschrieben!
Beschwingt verlässt Jochen K. am nächsten Tag seine Wohnung. Der Wind treibt die Rockschöße seiner Jacke hoch und zerrt an der Tasche in seiner Hand. Das gibt ihm noch mehr Schwung. Die Nägel gefeilt, das Eau de Toilette reichlich verteilt, fühlt er sich wohl in seinem Körper und seiner Uniform, die er extra nochmal ausgebürstet hat. Als er bei der Haltestelle Bahnstrasse die Fahrerkabine der Straßenbahn entert, um seinen Kollegen abzulösen, fällt diesem auch direkt der Duft auf: Eh, Jochen, hast du ’ne Frau kennengelernt? Du riechst ja. Parfümiert. Erschrocken sieht Jochen K. ihn an. Hatte er übertrieben? Er spürt das Blatt Papier in der Innentasche seines Jackets. Er betrachtet seine Fingernägel. Nein. Alles war richtig. Als sein Kollege ausgestiegen ist, stellt er seine Tasche auf die Ablage. Bevor er die Jacke aufhängt, nimmt er den Zettel heraus und steckt ihn in die Brusttasche seines Hemdes. Er muss ihn nah bei sich spüren. Das gefällt ihm.
Als er die Haltestelle Koroner Weg anfährt, ist er aufgeregt. Er fährt betont langsam um die Gelegenheit zu haben, in jedes Gesicht schauen zu können. Es sind nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig und eigentlich keine Frau, der er zutraut so einen „Brief“ zu schreiben. Der Wind zerrt an ihrer Frisur und ihrer Kleidung. Sie zieht den Mantel fest um ihren Körper. Schnitt. Irritiert drückt Jochen K. den Knopf zum Schließen der Türen. Die Bahn fährt wieder an. Hatte er gerade eine Szene aus dem Film gesehen? Bei jedem Halt beobachtet er nun intensiv die aussteigenden Fahrgäste. An der Endhaltestelle steigt sie schließlich aus. Sie geht Richtung Frankfurter Straße und dann ist sie seinem Blick entschwunden. Der Tag geht zu Ende und Jochen K. liegt wieder in seinem Bett und schaut Der Liebe verfallen. Der nächste Tag vergeht wie der Vorherige. Beim Fahrerwechsel macht sein Kollege eine Bemerkung über sein Eau de Toilette. An der Haltestelle Koroner Weg keine potentielle Briefschreiberin in Sicht und sie steigt ein. An der Endhaltestelle steigt sie aus. Sie geht Richtung Frankfurter Straße und verschwindet. Als er abends wieder zu Hause ist und den Film sieht, beschließt er wieder Urlaub zu nehmen.
Er lässt sich mit dem Taxi zur Bahnhaltestelle bringen. Er läuft zu dem wartenden Zug und springt hinein. Gerade noch rechtzeitig. Die Türen schließen und die Bahn fährt los. Er setzt sich eine Reihe hinter sie. Er bleibt ebenfalls bis zur Endhaltestelle sitzen und steigt kurz hinter ihr aus. Frankfurter Straße ist auch seine Richtung und plötzlich ist sie in einem Hauseingang verschwunden. Er bleibt stehen und betrachtet die Schilder an der Hausfassade. Ärzte, Anwälte und Filmproduktionen. Wahrscheinlich ist sie Arzthelferin, Anwaltsgehilfin oder Produktionssekretärin. Oder Ärztin, Anwältin oder Filmproduzentin. Er traut sich nicht in den einzelnen Büros nachzuforschen, ob er sie entdecken würde. So zieht er sich in ein dem Eingang gegenüber liegendes Schnellrestaurant zurück und bestellt erst einmal Kaffee und ein Schnitzelbrötchen. Als er die Mahlzeit verspeist hat, wir er unruhig.Da er nicht weiß, wie lange sie in dem Gebäude bleiben würde, zieht es ihn zurück zur Haltestelle an der sie ausgestiegen waren. Hier würde sie bestimmt wieder einsteigen. Er kauft sich eine Zeitung und wieder einen Kaffee und setzt sich auf eine Bank. Seine Hände fallen ihm wieder auf. Sie waren tatsächlich ganz ansehnlich. Er führ mit der Hand über das Kinn, den Hals und den Nacken und schnupperte an der Handfläche. Er schloss die Augen und dachte an Karin. Sie war für ihn genauso weit weg wie die Briefschreiberin und die Unbekannte aus der Bahn. Was machte er hier eigentlich? Er war dabei sein Leben einem Filmscript anzugleichen! Er sieht den wartenden Zug und springt hinein. Gerade noch rechtzeitig. Die Türen schließen und die Bahn fährt los. Schnitt.
Jochen K. sitzt vor seinem Schallplattenspieler. Er nimmt den Soundtrack von Falling in Love, wie der Film im Original heißt, auf seinen Ipod auf. Er läuft jetzt jeden Tag 5 Kilometer durch den Stadtwald und hört Musik dabei. Jetzt kann er endlich auch die Filmmusik hören. Ab und zu holt er den Zettel noch einmal hervor und liest ihn durch. Er hat irgendwie zu lange gewartet. Die Sache ist vorbei. Schade. Geblieben ist ihm der regelmäßige Besuch bei der Maniküre und er hat sein mittlerweile aufgebrauchtes Eau de Toilette nachgekauft.Wenn er eine Nachttour fährt und kaum Gäste im Wagen hat, dann schließt er den Ipod an den Außenlautsprecher an. Bei der Einfahrt in die Haltestelle Koroner Weg dreht er Dave Grosin laut.

— An Haltestelle Koroner Weg junge Frau von Straßenbahn angefahren. Der Fahrer steht unter Schock. Vielleicht hat die Frau die heranfahrende Bahn nicht gehört, da über den Außenlautsprecher Musik zu hören war. Man hat das Musikgerät sichergestellt —

              

                

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