Tageblog 17. September 2016

17. und 18. September Tag des Friedhofs in Deutschland

 

Für E. S.

 

Ein Platz an der Sonne

Ich bin schon lange nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Niemand aus meiner Familie oder aus meinem Freundeskreis ist in den vergangenen Jahren konventionell bestattet worden. Ich bin überrascht, was sich seit der letzten Beerdigung die ich besucht habe, verändert hat. Die Friedhofsanlage ist nicht mehr so streng in einem Raster angelegt. Die Gräber liegen zerstreut, ohne richtige Wege zwischen sich. Vielmehr liegt der gesamte Friedhof wie eine Wiese da, auf der an einzelnen Stellen Erhebungen sichtbar sind.
Neu ist die technische Entwicklung, die auch vor den Toten nicht haltgemacht hat. An jedem Grab gibt es eine digitale Tafel. Sie ersetzt sozusagen den Grabstein. Auf der Oberfläche liest man den Namen der verstorbenen Person, ihre Lebensdaten und unter Umständen noch ein Gedicht oder Gedenkworte. Will man mehr lesen, kann man den Touchscreen bedienen, wenn man Geld eingeworfen hat.
Ich werfe einen Euro ein. Es erscheint ein Bild von Martha. Als Kind. Eine Aufnahme, auf der sie ihr kleines Gesicht hinter einer Schultüte versteckt. Aber ihre Haarflut, die ungebändigt auf ihre Schultern fällt, verrät sie. Von diesen wunderbaren schwarzen Haaren habe ich immer noch eine Strähne in einem Briefumschlag in meinem Kleiderschrank liegen. Martha war nämlich meine beste Freundin. Viele Jahre lang. Dann kam was kommen musste. Ich zog mit meiner großen Liebe nach Südamerika und das Leben brachte es mit sich, dass wir uns kaum besuchen konnten. Obwohl wir uns anfangs viel schrieben, wurde auch das immer seltener, aber den Kontakt verloren wir nie. Ich habe sowohl Paul und die Kinder kennengelernt. Sie haben uns sogar einmal zusammen besucht, nach der Trennung war Martha zweimal alleine mit den Kindern da. Ich wischte weiter über die Oberfläche. Martha in der Tanzstunde, Abitur, mit mir zusammen auf unserer Nach-dem-Abi-machen-wir-eine-richtig-geile-Reise Reise. Wir sind durch Südamerika getramt, da habe ich auch José kennengelernt. Dann Fotos von ihrer Hochzeit, zusammen mit ihren Kindern Johannes und Elke, Urlaubsfotos usw. Stationen eines Lebens eben. Ich drücke jetzt auf das Lautsprechersymbol. Stairway to Heaven ertönt, in der Originalversion von Led Zeppelin. Ich erschrecke mich und schaue mich um. Niemand in meiner Nähe, der sich von dem Sound gestört fühlt. Mir reichts. Ich wende mich wieder dem Ausgang zu. Elke hat mich noch eingeladen. Sie wohnt noch in dem Haus, indem Martha und sie selbst groß geworden sind. Ich selbst bin unzählige Male dort gewesen und habe mit Martha in dem großen Haus und dem noch größeren Garten gespielt.
Elke öffnet die Tür. Sie sieht ihrer Mutter kaum ähnlich, die Gesichtszüge erinnern an Paul. Aber ihr Gang und ihre Gesten lassen Martha wieder lebendig werden. Gerne lasse ich mir von Elke den Kaffee einschenken und ein Stück Kuchen auftragen.
Ich bin sehr überrascht, wie der Friedhof jetzt aussieht. Das hätte Martha bestimmt nicht gefallen. beginne ich das Gespräch Sie wollte doch am liebsten in ihrem eigenen Garten begraben werden oder die Asche über dem Meer verstreut wissen. Diesem digitalen Lebensalbum hätte sie bestimmt den Stecker gezogen, wenn sie vom Totenreich aus dran gekommen wäre. Gab es keine Alternative?  Ich gucke Elke eindringlich an. Als ehemals beste Freundin glaubte ich, mir das rausnehmen zu können. Seltsamerweise schien Elke gar nicht eingeschnappt zu sein, sondern vielmehr umspielte ein verschmitztes Lächeln ihr Gesicht. Sie kniff das linke Auge zusammen (wie Martha es immer getan hatte) Komm‘ mit in den Garten, ich will dir was zeigen. Sofort fühlte ich mich in meine Kinderzeit zurückversetzt, als ich über die Wiese ging. Vorbei an dem Holzschuppen, die Hollywoodschaukel stand auch immer noch da. Der kleine Teich hatte mittlerweile eine neue Einfassung bekommen, aber der Walnussbaum, der zu meiner Kinderzeit schon alt und riesengroß gewesen war, stand noch majestätischer als damals an seinem Ufer. Magisch angezogen von der Schaukel, die   über seinem großen Ast hing, setzte ich mich und schwang leicht durch die Luft.
Genau hier ist Marthas Urne begraben sagte Elke und ich wäre beinahe von der Schaukel gefallen. Ich hielt abrupt an und schaute sie fragend an. Wie meinst du das? Ich kniff die Augen zusammen. Wir hatten ja viel Zeit darüber zu reden. Meine Mutter hat immer davon gesprochen, dass sie am liebsten in ihrem eigenen Garten begraben sein möchte. Am liebsten unter dem Walnussbaum an der Stelle, an der die meiste Sonne scheint. Sie hat mir auch erzählt, dass ihr euch früher schon darüber unterhalten habt. Daher weiß ich auch über deine Lieblingsbeerdigungsart Bescheid, wenn sich das in der Zwischenzeit nicht verändert hat. Sie grinst. Du weißt ja, wie Martha war. Sie hat sich um so viele Menschen in der Gemeinde gekümmert, war in unzähligen Vereinen und Bürgerbewegungen tätig. Martha fühlte sich verantwortlich für alle Menschen, die gerne zu ihrem Grab gehen würden um dort vielleicht Trost zu suchen. Dass das nicht in meinem Haus passieren konnte, wenn wir daraus kein Museum machen wollten, war klar. So haben wir uns eigentlich damit abgefunden, dass nur eine öffentliche Grabesstelle in der Nähe in Frage kommen würde. Wir haben gemeinsam den Friedhof besichtigt, und es war für sie in Ordnung. Den touchscreen fand sie auch gar nicht so schlimm. Eher amüsierte sie die Vorstellung, dass vielleicht Jugendliche auf den Friedhof kommen würden, um Musik zu hören. Wir haben dann einen Bestatter hinzugezogen, um mit ihm die eigentliche Trauerfeier zu planen. Als er hörte, dass es Marthas größter Wunsch sei, in ihrem Garten ihr Grab zu finden und sie aus Rücksicht auf die Trauernden sich für den öffentlichen Friedhof entschieden hat, machte er den ultimativen Vorschlag: Eine offizielle Beerdigung mit einer Urne, gefüllt mit Erde aus ihrem Garten für die Öffentlichkeit, mit allem was dazu gehört. Die eigentliche Bestattung im heimischen Garten mit der richtigen Urne nur für Eingeweihte. Und so haben wir es dann auch gemacht. Es ist nur ein kleines Loch das ausgehoben werden muss für eine Urne. Ganz in der Nähe des Baumstamms. Wenn man schaukelt, hat man das Gefühl man kann mit ihr sprechen. Auf jeden Fall guckt sie zu. Das Getrampel über ihr lässt sie aufhorchen. Ich mag diesen Platz sehr.  Sie schaut mir direkt in’s Gesicht Ich weiß schon was du sagen willst. Ist das nicht schlimm, mit einer Lüge zu leben? Werden die Menschen nicht verarscht, die auf den Friedhof gehen? Ich habe da natürlich auch mit Martha drüber gesprochen. Dabei haben wir grundsätzliche Gespräche über den Tod, über Trauer und den Umgang damit geführt. Wir haben entschieden, dass wir nicht die Gefühle der Menschen verletzen, wenn wir uns für diese Lösung entscheiden. Die Gefühle der Trauer sind echt und finden an diesem Ort, ob Marthas Asche dort tatsächlich ruht oder ein Placebo, ihren Platz. Martha hat sich ihren größten Wunsch erfüllt, wovon auch ich profitiere. Ich war platt. Was sollte ich dazu sagen. Das erste Mal, seit ich wegen Marthas Tod zurückkehrt war, kamen mir auf der Schaukel die Tränen.

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